Preisträger und Finalisten
Comicbuchpreis 2018
Dass sich ein renommierter Schriftsteller und ein Zeichner zusammentun, ist in der deutschsprachigen Comicszene immer noch ungewöhnlich. Wenn dabei ein derart spannendes Projekt über das ebenso brisante wie selten behandelte Thema Entwicklungshilfe entsteht, hervorragend recherchiert, erzählt und gezeichnet, dann verspricht das ein Glücksfall für den deutschsprachigen Comic zu werden.
- Dr. Thomas von Steinaecker
Über die Preisträger
Thomas Pletzinger wurde 1975 in Münster geboren, wuchs in Hagen am Rand des Ruhrgebiets auf, studierte Amerikanistik in Hamburg sowie am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und lebt heute mit seiner Frau und seinen drei Töchtern in Berlin. Er arbeitet als freier Autor, Journalist und Übersetzer, zudem unterrichtet er an der Hochschule für bildende Künste Hamburg.
Von ihm erschienen der Roman „Bestattung eines Hundes“ (2008) und das Sachbuch „Gentlemen, wir leben am Abgrund“ (2012), beide im Verlag Kiepenheuer & Witsch. Pletzinger übersetzte unter anderem David Mazzucchellis Graphic Novel „Asterios Polyp“ (Eichborn), John Jeremiah Sullivans Essaysammlung „Pulphead“ (Suhrkamp) sowie Alison Bechdels „Wer ist hier die Mutter?“ (KiWi). Sein nächstes Sachbuch wird 2018 erscheinen: eine buchlange Reportage über den Basketballspieler Dirk Nowitzki.
Tim Dinter wurde 1971 in Hamburg geboren und wuchs an verschiedenen Orten in Deutschland, Belgien und England auf. Er studierte an der École des Arts in Brüssel, am London College of Printing und an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.
Zu seinen Publikationen gehören u.a. „Lästermaul und Wohlstandskind – Neue Berliner Geschichten“ (avant 2011), „Cargo“ (avant 2004) und „Alte Frauen“ (Zwerchfell Verlag 2001). Zuletzt erschien 2014 seine Bearbeitung von Sven Regeners berühmter Wendegeschichte „Herr Lehmann“ im Eichborn Verlag. Tim Dinters Comics und Illustrationen waren bei zahlreichen Ausstellungen in Deutschland, der Schweiz, Israel, Brasilien und Argentinien zu sehen.
Die Finalisten des Comicbuchpreises 2018 sind:
Sina Arlt: „Was die Nachbarn heute wohl machen“
Der Titel von Sina Arlts „Was die Nachbarn heute wohl machen" suggeriert einen Blick auf die Welt. Vor allem aber ist der Comic ein sensibles Porträt eines jungen Mädchens, dessen eigene Welt sich radikal verändert. Während eines Kuraufenthalts der Mutter hat der Vater für Tochter, Haushalt und Katze zu sorgen, und an solche Pflichten ist der Mann nicht gewöhnt. So gerät eine dörfliche Routine der achtziger Jahre aus dem Lot, und Sina Arlt versteht es meisterhaft, den verwunderten Blick eines Kindes auf die dadurch veränderten Umstände einzufangen: durch zahlreiche Details inner- und außerhalb des Familienheims, die von diesem Blick erst belebt werden, und durch unvergessliche Nebenfiguren. Der graphische Einfluss von Anke Feuchtenberger ist zwar unverkennbar, doch die Geschichte wird mit einer Ruhe erzählt, die der Alltäglichkeit des Geschehens entspricht. Und trotzdem, wird deutlich, dass hier mehr als nur ein neuer Lebensabschnitt beginnt. Es beginnt auch eine Zeichnerinnen-Karriere.
– Andreas Platthaus
Matthias Gnehm: „Salzhunger“
Vor dem Hintergrund des globalen Kampfes um immer knapper werdende Rohstoffe wird in „Salzhunger“ eine fiktive, aber genau recherchierte Geschichte dreier Umweltaktivisten zwischen Zürich und Lagos erzählt, die kriminelle Machenschaften eines Weltkonzerns aufdecken wollen. Doch ihr Vorhaben fliegt auf. Die Suche nach dem Verräter, der offenbar aus den eigenen Reihen kommt, gestaltet sich komplizierter als anfangs gedacht. Denn wie der Leser nach und nach erfährt, treiben viele der Figuren ein doppeltes Spiel. Mit opulent gemalten semi-realistischen Bildern hat Matthias Gnehm einen Umwelt-Thriller geschaffen, der sich auch als politischen Kommentar zu den Schattenseiten der Globalisierung lesen lässt. Dessen farbenfrohe Optik steht in starkem Kontrast zur düsteren, abgeklärten Weltsicht, die die Story vermittelt.
– Lars von Törne
Kathrin Klinger: „Arbeit“
Eine Handvoll Angestellte, die für ein Medienunternehmen Internetkommentare überprüfen, steht im Mittelpunkt der kleinen, komödiantisch wunderbar reduzierten Geschichten von Arbeit und Rauchpausen, Betriebsfeiern und Freizeit und eher stillen Sehnsüchten, die im Kontrast zu den lauten, oft krassen Kommentaren stehen, die zum Job dieser Büromenschen gehören. „Arbeit“ von Kathrin Klingner ist als Episoden-Comic angelegt: Nichts wird aufgelöst, vieles in der Schwebe gelassen. Diese Künstlerin weiß, was sie zeichnet und tut, und das macht Freude.
– Brigitte Helbling
Matthias Lehmann: „Parallel“
"Parallel" erzählt mit feinem Strich, in eindringlichen Dialogen und kontrastreichem Spiel mit Licht und Schatten, Zeigen und Verbergen, die Lebensgeschichte des homosexuellen Karl. Karls Versuch, sich in jungen Jahren in die traditionelle Ordnung der Geschlechter einzufügen, scheiterte. Nun im Ruhestand, zeitlich verortet in den 1980ern, blickt er zurück auf ein Leben zwischen Anpassung und Aufbegehren, auf ein Leben mit psychischen und physischen Gewalterfahrungen; nach § 175 waren sexuelle Handlungen zwischen Männern immerhin noch bis 1994 unter Strafe gestellt. In zahlreichen Rückblenden und in intensiver Nahsicht erfahren wir von seinen gescheiterten Ehen, zerbrochenen familiären Beziehungen – und seiner Liebe zu Männern.
– Stefanie Stegmann
Max Julian Otto: „Die leuchtende Nacht“
Dieses sehr besondere Unterfangen ist noch weit von einer Fertigstellung entfernt und lässt doch Großes erwarten: In der mit Träumen, reichen Bilderwelten und Zeitsprüngen durchsetzten Geschichte eines jungen Mannes, der sich seit der Kindheit vor dem Tod fürchtet, wird vom mutigen und oft auch skurrilen Kampf gegen existentielle Ängste erzählt. Zu zweit kämpft es sich besser! Denn ja, hier drin ist auch eine Liebesgeschichte versteckt; eine der reizvollsten, die in den letzten Jahren im Comic zu finden war.
– Brigitte Helbling
René Rogge: „Brief an einen Schriftsteller"
Osamu Dazai ist einer der wichtigsten japanischen Schriftsteller, vergleichbar mit Wolfgang Borchert für Deutschland in der Bedeutung für die unmittelbare Nachkriegszeit (und auch was das persönliche Schicksal beider Autoren angeht). Die 1947 erschienene Erzählung „Kling Klang, Kling Klang“ über die Erlebnisse eines einfachen Soldaten im Zweiten Weltkrieg hat René Rogge zur Grundlage einer faszinierenden Adaption mit dem neuen Titel „Brief an einen Schriftsteller“ gemacht: gezeichnet in einem Manga-Stil, der Elemente des europäischen Autorencomics einbezieht. Die Rhythmisierung der Geschichte durch ständigen Wechsel der Bildformate bis hin zu doppelseitigen Arrangements setzt markante Akzente, und die Leere wird ganz im Sinne der graphischen Tradition Japans zum wichtigen Stilmittel: Gerade dadurch wird die Verzweiflung eines gewöhnlichen Mannes unter außergewöhnlichen Umständen im Comic sichtbar.
– Andreas Platthaus
Franz Suess: „Paul Zwei“
Selbstzweifel, sexuelle Obsession und Suizidgedanken – es sind schwere Themen, die Franz Suess in „Paul zwei“ behandelt. Seine von einem Grauschleier durchzogenen Bilder bringen einem die unerfüllten Wünsche und vielfältigen Enttäuschungen der Protagonisten auch visuell näher, als es vielen Lesern lieb sein dürfte. Die Hauptfigur ist ein junger Mann namens Paul, der aus der Provinz in eine Wohngemeinschaft in Wien zieht. Das Leben dort beschert ihm statt des erhofften Lebensglücks vor allem Enttäuschungen – auch, weil sein Selbstbild mit der Realität nur wenig zu tun hat. Das erzählt Suess größtenteils aus Pauls Perspektive und lässt seine Leser in kurzen Passagen auch in Leben jener Menschen eintauchen, denen Paul begegnet und deren von schwierigen Beziehungen geprägter Alltag oft kaum weniger traurig ist. Die filigranen Bleistiftzeichnungen, die wie ins Papier gekratzt wirken, verstärken die düstere Atmosphäre der Erzählung, ebenso die überproportional großen Köpfe und die teilweise grotesk überzeichneten Gesichter, in denen die Enttäuschungen des Lebens sichtbare Spuren hinterlassen haben.
– Lars von Törne
Greta von Richthofen: „Wir ersten Menschen“
"Wir ersten Menschen,…" folgt der Studentin Anka in die Kommune des Wiener Aktionskünstlers Otto Mühl Anfang der Siebzigerjahre, bis hin zur Auflösung der Gruppe und der Verurteilung Mühls Anfang der Neunzigerjahre. Für den zwischen Faszination und Entfremdung changierenden Innenblick findet Greta von Richthofen eine behutsame Zeichenform und ein dezentes Rosa, beides widerständig zur extrovertierten Ästhetik der Gruppe.
– Florian Höllerer
Jochen Voit (Text) und Hamed Eshrat (Illustration): „Nieder mit Hitler! oder warum Karl kein Radfahrer sein wollte"
Jochen Voit und Hamed Eshrat spüren in "Nieder mit Hitler! oder warum Karl kein Radfahrer sein wollte" der Biographie eines 90jährigen Mannes in Erfurt nach: Karl, der sowohl in Jugendjahren im antinationalsozialistischen Widerstand als auch später in der DDR als Mitglied der unabhängigen Friedensbewegung Verfolgung ausgesetzt war. Eine so zugängliche wie bewegliche Bildsprache lässt uns den fernen Zeiten nahekommen – und mittendrin der Möglichkeit eines Lebens im aufrechten Gang.
– Florian Höllerer