Preisträger und Finalisten
Comicbuchpreis 2021
Mia Oberländer wird für ihren Comic „ANNA“ mit dem Comicbuchpreis 2021 der Bertold-Leibinger-Stiftung ausgezeichnet. Bei einer digitalen Sitzung kürte die Jury des Comicbuchpreises die gebürtige Ulmerin als mittlerweile siebte Trägerin des mit 20.000 Euro dotierten Preises.
Über die Preisträgerin
Mia Oberländer wird für ihren Comic „ANNA“ mit dem Comicbuchpreis 2021 der Bertold-Leibinger-Stiftung ausgezeichnet. Bei einer digitalen Sitzung kürte die Jury des Comicbuchpreises die gebürtige Ulmerin als mittlerweile siebte Trägerin des mit 20.000 Euro dotierten Preises. Mia Oberländer ist für den Norddeutschen Rundfunk als Multimedia Assistentin tätig und macht gerade ihren Masterabschluss in Illustration in der Klasse von Professorin Anke Feuchtenberger an der HAW Hamburg.
Anna 2 hat ein Problem. Sie ist groß. Zu groß für eine Frau. Das liegt in der Familie. Bei Anna 1, ihrer Mutter, was es schon genauso. Nichts ändert sich unter der Sonne, zumindest nicht die Vorurteile, das Aburteilen auf den ersten Blick. Mia Oberländer hat mit ihrem Comic „Anna“, den sie einen graphischen Essay nennt, ein ebenso witziges wie herausforderndes Lehrstück geschrieben und gezeichnet. Es erzählt nicht mit erhobenem Zeigefinger – dann wären die Annas ja noch viel größer –, sondern als Groteske mit Tiefgang: Die Geschichte legt den Zeigefinger lieber in die Wunde. Es ist ein Buch, das denjenigen Mut machen will, die aufgrund von Äußerlichkeiten ausgegrenzt werden. Indem es mit all den Klischees spielt, die es entlarvt, und sie somit lächerlich macht. Und das wiederum macht diesen Comic groß. Zu groß, als dass er übersehen werden konnte im weiten Feld der diesjährigen Teilnehmer des Wettbewerbs um den Berthold Leibinger Comicbuchpreis.
- Andreas Platthaus
Die Finalisten des Comicbuchpreises 2021 sind:
André Breinbauer: „Medusa und Perseus“
Die schiere Lust am Medium Comic – dessen Umsetzung in „Medusa und Perseus“ eine hochversierte Hand verrät – hat die Jury begeistert. Mit zwei Geschichten aus der Antike wird leicht und eigenwillig umgegangen; das Umblättern allein ist schon ein Vergnügen: Was wird uns auf der nächsten Doppelseite erwarten? Das Gesamtvorhaben, von dem einiges bereits vorliegt, gibt sich auf schönste Art ambitioniert; das Endergebnis soll sich von zwei Seiten lesen lassen, und das entspricht unbedingt den beiden Zentralfiguren – Perseus als Monsterjäger, Medusa, das „Monster“, als „anarchistische Rebellion“ (hier zitiert Breinbauer in seinem Exposé Hélène Cixous) gegen die „Phallokratie“. Was eine solche Gegenüberstellung im Comic sein kann, sinnlich, virtuos nachgezeichnet, bleibt Gegenstand fröhlicher (hier zitieren wir nicht Nietzsche) Erwartung.
- Brigitte Helbling
Jennifer Daniel: „Das Gutachten“
Das waren noch Zeiten, als man überall rauchen konnte und Alkohol am Steuer ein Kavaliersdelikt war! Die Graphic Novel «Das Gutachten» spielt Ende der Siebziger Jahren in Bonn und vermischt geschickt und überzeugend die Themen jener Zeit wie Alkoholismus und deren schlimmen Folgen im Strassenverkehr, rebellierende Jugend, alte Machtstrukturen, die traumatisierenden Folgen des Zweiten Weltkriegs und die Vertuschung der Nazivergangenheit. Dazu passt perfekt ein Zeichenstil, der an das Dekor und die Stimmung des «Internationalen Frühschoppen» mit Werner Höfer (die Brille!) in der ARD erinnert.
- David Basler
Hendrik Dorgathen: „Pretty Deep Space“
Was Hendrik Dorgathen mit „Pretty Deep Space“ betreibt, ist die Wiedergeburt der Science Fiction aus dem Geist der Vergangenheit: Auf der Basis von Vorbildern wie Asimov, Moebius und Kubrick wird dem Weltraum-Epos wieder eine Zukunft geschenkt. Dorgathens vielhundertseitige Space Opera ist ein Fest der Farben, Fabeln und Formen. Und zugleich eine hoffnungsfrohe Parabel auf die Überwindung von Manipulation und Misanthropie durch Legitimität und Liebe. Nicht einer Legitimität oder einer Liebe, wie sie den Erwartungen unserer Gesellschaft entspricht, sondern gemäß eines stringent aus dem Modell einer künftigen Gemeinschaft entwickelten neuartigen Verständnisses von Sozialität. Denn wie jede anspruchsvolle Science Fiction entwirft „Pretty Deep Space“ eine Utopie. Und erzählt eine Heldengeschichte, die Hoffnung gibt für die Menschheit – gerade weil die Helden dieser Geschichte über die Grenzen der Spezies hinauswachsen.
- Andreas Platthaus
Hamed Eshrat: „Coming of H”
“Coming of H” – ein witziges Spiel mit der englischen Aussprache des Buchstabens „H“, „Eitsch“ – kündigt eine Erzählung des Erwachsenwerdens („coming of age“) des Protagonisten Hamed an und deutet auch leise auf die Präsenz von Drogen (H = Heroin) darin hin. Für die Jury wie für die europäische Comicszene ist Hamed Eshrat („Venustransit“) kein Neuling, hier nun greift er auf (Auto-)Biographisches zurück – die frühe Kindheit im Iran, der Weg nach Deutschland, das Scheitern des Vaters in diesem neuen Leben. Uns wird eine Erzählung aus Sicht des Jugendlichen Hamed – Skateboarder, Sprayer – in der westfälischen Provinz versprochen, ausgearbeitete Seiten lassen ein dynamisch-souveränes Comic-Erzählen erwarten. Auf den weiteren Fortschritt dieses persönlichen Berichts eines grandiosen Zeichners sind wir gespannt.
-Brigitte Helbling
Andrew Humphreys und Olivier Kugler: „Die grossen britischen Fish & Chips“
Olivier Kugler und Andrew Humphreys nehmen in „Die großen britischen Fish & Chips“ DAS britische Nationalgericht unter die Lupe: von den jüdischen Ursprüngen über den Kabeljau aus Island und Norwegen bis zum Essig von einem japanischen Konzern. Kugler und Humphreys zeigen globale Zusammenhänge auf, die sich auf viele Bereiche übertragen lassen und gerade in Zeiten erstarkenden Nationalismus‘ wichtige Denkanstöße liefern. Kuglers auf ganzen Seiten ausgebreitete grafische Verdichtung der bereits gewonnenen Erkenntnisse und das Vorhaben weiterer umfassender Recherchen des Teams vor Ort versprechen eine so gehalt- wie genussvolle Comicreportage.
- Barbara Buchholz
Charlotte Müller: „Ein Haus mit vielen Fenstern“
Charlotte Müller hat seltene künstlerische Stärken:
― Mut, denn das Thema ihres Buchs „Ein Haus mit vielen Fenstern“ ist maximal unsexy, doch durch Wahrhaftigkeit und inneren Reichtum hat sie zu einem Kunststück gemacht.
― Eigenständigkeit, denn sie verzichtet auf sämtliche Markt- und Genreerwartungen sowie die notorischen Erfolgsbeschleuniger Grandiosität, Virtuosität und Selbstdarstellung.
― Außergewöhnliches Formgefühl, denn jedes Wort, jedes Bild spricht für sich und erhält durch die asketische Komposition Gewicht.
― Außergewöhnliches Sprachgefühl, denn aus den teilweise unbeholfenen, von schwindender Übersicht geprägten Selbstauskünften betreuter alter Menschen in einem Heim bildet die Autorin durch kluge Auswahl die Tragik und Würde ganzer Schicksale.
Das Ergebnis ist echte Literatur.
- Petra Morsbach
Bianca Schaalburg: „Der Duft der Kiefern“
Was geht in einem vor, wenn man erfährt, dass Juden wegen meiner Familie ihre Wohnung verlassen mussten und der Großvater in der NSDAP war? Der Autorin gelingt es, einerseits mit ihren Recherchen, wo sie sich selber ins Bild setzt, anderseits mit Rückblenden eine Familiengeschichte zu erzählen, die viele ihrer Fragen nicht beantworten kann, aber dennoch zu einer spannenden, informativen und zwingenden Auseinandersetzung mit einer Vergangenheit führt, die von Schuld und Verdrängung geprägt ist.
- David Basler
Thomas von Steinaecker und David von Bassewitz: „Stockhausen - Der Mann, der vom Sirius kam“
Das groß angelegte Comicprojekt ist einerseits die biographische Darstellung von Karlheinz Stockhausen und zeichnet nach, wie aus dem Komponisten eine Ikone der elektronischen Musik und Avantgarde wurde. Erzählt wird andererseits die mehrphasige Geschichte der Stockhausen-Verehrung des jugendlichen Thomas von Steinaecker, die in einer langen Reihe freundschaftlicher Begegnungen mündet. Ein virtuoses Storyboard von Thomas von Steinaecker sowie die so charakterstarke wie variable Bildgestaltung von David von Bassewitz lassen beide Stränge ineinandergreifen und zwischen Heldengeschichte und kritischer Distanzierung oszillieren.
- Florian Höllerer
Birgit Weyhe: „Rude Girl“
„Rude Girl“ erzählt das Leben von Crystal, einer Germanistikprofessorin, deren Eltern und Verwandte in den 1970er Jahren aus der Karibik in die USA eingewandert sind. Birgit Weyhe findet für diese Erzählung indes eine besondere Form, indem sie Crystal in die Entstehung des Comics eng einbezieht und diese Begleitung auch zeichnerisch und erzählerisch umsetzt. Zum einen erzählt sie in souveränem Strich vom Aufwachsen Crystals, von ihren Gefühlen der Fremdheit, von Ausgrenzung, Missbrauch und von kaum lösbaren Spannungen zwischen den Zuschreibungen der Gleichaltrigen, den Vorstellungen der Familie und Crystals eigenen Wünschen. Zum anderen reflektiert sie auf einer zweiten Erzählebene klug, wie sensibel gegenwärtige postkoloniale Diskurse um kulturelle Aneignung, in dem sie Crystals begleitenden Kommentare zur Figur und zum Comic zeichnerisch aufgreift, einflicht und mit den eigenen Haltungen und Wahrnehmungen abgleicht.
- Stefanie Stegmann